P A U L G R I L L E Y

Yin Yoga Texte von Paul Grilley
übersetzt von Helga Baumgartner 

Ich freue mich, dass ich dem Blog über Yin Yoga heute etwas hinzufügen darf, was mir ganz besonders am Herzen liegt: nach Absprache mit meinem Lehrer Paul Grilley (www.paulgrilley.com) werde ich beginnen, die Artikel seiner Webseite auf Deutsch zu übersetzten und hier online zu stellen. Wie Paul Grilley dies auch in seinem Buch 'Yin Yoga' macht, habe ich immer wenn es um einen einzelnen Yogi geht, als Artikel, ein ‚Sie‘ (und nicht ein ‚Er‘) gewählt. Bitte beachtet, dass diese Texte Schöpfung und Eigentum von Paul Grilley sind, und nicht ohne seine Erlaubnis verwendet werden dürfen. 

 01. PAUL GRILLEY: EINE TAOSTISCHE ANALYSE: VERTRAUT WERDEN MIT DEM KONZEPT VON YIN UND YANG

Wir können über viele Dinge diskutieren, wenn wir beginnen, den menschlichen Körper zu analysieren. Die 13. Ausgabe von Gray's Anatomy beinhaltet beinahe 1700 Seiten. Und dies ist nur eine reine Beschreibung von Körperteilen. Textbücher über Physiologie können leicht ein Volumen von mehreren tausend Seiten erreichen. Die Fragen jedoch, die Hatha Yoga Praktizierende am meisten interessiert ist: „ Wie bewegt sich mein Körper?“ oder noch genauer „ Warum bewegt sich mein Körper nicht genau so wie ich dies möchte?“
Um diese Frage besser beantworten zu können, werden wir unsere Gelenke unter die Lupe nehmen.  Es sind einige Gewebe, die ein Gelenk formen: Knochen, Muskel, Sehne, Band, Synovialflüssigkeit, Knorpel, Fett, und mit Flüsigkeit gefüllte Säcke, die wir Bursae nennen. Welche dieser Gewebe daraus wir aber genauer betrachten müssen, sind diese drei : Muskel, Bindegewebe und Knochen. Jedes dieser drei Gewebe hat unterschiedliche plastische Eigenschaften, und jedes dieser drei Gewebe reagiert anders auf die Belastung, die eine Yogahaltung darauf ausüben kann. Ein Yogi kann sich vor  jeder Menge Frust und auch vor möglichen Verletzungen bewahren, wenn Sie lernt, die Unterschiede zwischen diesen drei Geweben zu spüren.
Taoistische Philosophie
Bevor wir uns mit der Analyse von Gelenksbewegungen vertraut beginnen, treten wir erst einmal ein paar Schritte zurück und  machen uns mit den alten taoistischen Konzeptionen  von Yin und Yang vertraut. Der Grund für diese Vorgehensweise ist, wie extreme hilfreich diese Konzepte von Yin und Yang nicht nur für das Verständnis der Gewebe des menschlichen Körpers sind, sondern tatsächlich für jeden Blickwinkel auf den menschlichen Geist und unsere Aktivitäten. Wenn wir uns die Zeit nehmen, die tieferen Bedeutungen der taoistischen Denkweise zu verstehen, werden wir diese Beobachtungen sogar auf Pranayama und Meditation ausweiten können, indem wir ähnliche Termini und Ideen heranziehen. Wir werden feststellen können, dass tatsächlich alles im Universum als  Kategorie von Yin und Yang gesehen werden kann. Wenn wir aus dieser Beschreibungsmethode eine Gewohnheit machen, werden wir uns nicht mehr mit  schnellen und einfachen schwarz/weiss Antworten zufrieden geben, sondern werden bald feststellen , wie alles miteinander verwoben ist; sogar Dinge, die scheinbar in Gegensatz zueinander stehen.
Leer oder Voll?
Taoism hat dasselbe grundlegende Verständnis wie Buddhismus und Vedanta, wenn wir beginnen die "Dinge" oder "Substantive" im Universum zu analysieren. Diese Einsicht ist, daß nichts nur in sich selbst und aus sich selbst besteht. Ein Baum, zum Beispiel, kann nicht für sich selbst bestehen. Der Baum braucht die Luft aus seiner Umgebung, das Wasser aus der Erde, Licht und Wärme von der Sonne.  Der Baum könnte ohne die Erde in die er seine Wurzeln schlagen kann nicht existieren.  Die Erde braucht  die Sonne, um Leben hervorbringen zu können. Die Sonne würde nicht bestehen gäbe es den Raum um sie herum nicht. Nichts was existiert ist völlig unabhängig von allem anderen; nicht ein einziger Baum, kein Stein, und sicherlich auch kein Menschenwesen.
Obwohl Buddhismus und Vedanta dasselbe Verständnis über die Verwobenheit von allen Dingen teilen, kommen sie doch zu gegensätzlichen Schlüssen in dem Konzept der letztendlichen Natur aller Dinge. Der Buddhist sagt "Kein Ding existiert." Vedanta sagt "Alle Dinge sind in Wirklichkeit nur das EINE Ding.". Der Buddhist sagt "Keine 'Dinge' existieren, denn wenn wir beginnen deren Hüllen und Lagen aus Erde, Luft, Wasser und Licht zu entfernen, bleibt nichts mehr übrig"
Der Vedanta Schüler sagt "Alle 'Dinge' sind in Wirklichkeit nur das 'EINE Ding' . Denn alles entsteht und zerschmilzt beim Vergehen wieder in alles andere hinein. "
Die Schlussfolgerung der Buddhisten ist  "Alle Dinge sind Leer oder Sunya."
Die Schlussfolgerung der Vedanta-Schüler ist "Alle Dinge sind Voll oder Purna."
Die Taoisten aber sagen "Alle Dinge sind 'Leer' und 'Voll' zugleich".
Die Taoisten sagen "Alle 'Dinge' bestehen als ein Kontrast von Gegensätzen. Wir nennen diese Gegensätze Yin und Yang. Wir können diese Gegensätze nicht unabhängig voneinander erfahren. " Ein Taoist stellt die Frage "Was ist wichtiger um einen Raum zu erschaffen: die Wände oder der Raum innen?". Sicherlich sind sowohl die solide Wand als auch der leere Raum gleichberechtig von Nöten, um einen Raum zu formen. Diese definieren sich gegenseitig. Ohne Wände ist der Raum im Inneren Teil vom gesamten Raum und kann nicht davon unterschieden werden. Ohne den Raum im Inneren würde es keinen Sinn machen, eine Wand so zu nennen, denn sie wäre nur ein massiver Block.
Taoists sagen, dass Gegensätze einander definieren. Die Worte die wir nutzen um Dinge zu beschreiben, haben keine Bedeutung ohne deren Gegensätze. Die Bedeutung von Worten wie gross, hell oder heiss sind definiert durch deren Gegensätze klein, dunkel und kalt. Taoists bezeichnen diese entgegengesetzten Qualitäten als Yin und Yang. Nachfolgend einige Beispiele von Yin und Yang.
Das Yang eines Objektes ist alles, was über die Sinne wahrgenommen wird.
Das Yin eines Objektes ist alles, was den Sinnen verborgen bleibt.
Yang Dinge sind hell, warm, weich, in Bewegung und in Veränderung.
Yin Dinge sind dunkel, kalt, hart, unbeweglich und unveränderlich.
Der Inbegriff von Yang ist eine warme, helle, offene Hügelkuppe.
Der Inbegriff von Yin ist eine kühle, dunkle, verborgene Höhle.
Die sonnige Seite eines Hügels ist Yang, die schattige Seite davon ist Yin.
Alles was näher am Himmel liegt ist Yang.
Alles was näher an der Erde liegt ist Yin.
Alles ist relativ
Wenn wir die Begriffe Yin und Yang benutzen, dürfen wir nicht vergessen, dass diese Begriffe relative sind, und keine Absolutheit darstellen.  Wir könnten zum Beispiel sagen, daß die Wände des Raums Yin sind, weil sie massiv sind, der Raum im Inneren Yang weil er leer ist.  Aber wir können ebenso sagen daß die Wände Yang sind, weil man diese direkt wahrnehmen kann und der Raum Yin, weil wir ihn nicht direkt wahrnehmen können. Das wichtigste wenn wir die Worte Yin und Yang benutzen, ist der jeweilige Kontext. 
Wenn wir die Begriffe Yin und Yang benutzen um zu beschreiben, wie sich unser Körper bewegt, ist der Kontext die Flexibilität unserer Gelenke. Es sind drei Gewebe die Yogis bedenken müssen, wenn sie ihre Gelenke biegen und beugen und jedes davon eine unterschiedliche Dehnbarkeit vorweist.  Jedes dieser Gewebe reagiert anders auf die Belastung, die die Yogahaltungen darauf ausüben. Was wir lernen wollen, ist mit den Yin Geweben des Körpers auf eine Yin Art und Weise zu üben, und mit den Yang Geweben auf eine Yang Art und Weise.  Knochen sind Yin, Muskeln sind Yang, das Bindegewebe liegt zwischen diesen beiden Extremen. Im nächsten Artikel werden wir beginnen, diese Unterschiede zu erarbeiten. 





02. PAUL GRILLEY: EINE TAOSTISCHE ANALYSE: DIE  3 GEWEBE UNSERES KÖRPERS
Der erste Artikel in dieser Serie hat die Frage aufgeworfen : „Wie bewegt sich mein Körper?“ Wir haben uns die Zeit genommen, die taoistischen Ideen von Yin und Yang dazu zuerst einmal näher zu betrachten, bevor wir uns mit dieser Frage in der Tiefe beschäftigen. Jetzt ist es daher an der Zeit zu der ursprünglichen Frage zurückzukommen, eine Frage die für viele Hatha Yoga Übende die wichtigste aller Fragen ist: „ Warum bewegt sich mein Körper NICHT so wie ich dies möchte?“Um diese Frage zu beantworten, werden wir einen Blick auf unsere Gelenke werfen. Es sind viele verschiedene Gewebe die miteinander ein Gelenk formen: Knochen, Muskel, Sehne, Band, Synovialflüssigkeit, Knorpel, Fett und kleine mit Flüssigkeit gefüllte Säckchen die auf lat. Bursae heißen, die Schleimbeutel. Für uns reicht es im Moment jedoch aus, drei dieser Gewebe näher zu betrachten: Muskel, Bindegewebe und Knochen. Jedes dieser Gewebe hat andere elastische Qualitäten, jedes reagiert anders auf die Beanspruchung durch die Yogahaltungen. Wenn Yogis lernen, den Unterschied zwischen diesen drei Geweben zu fühlen, kann  ihnen dies ein Menge an Frust und möglichen Verletzungen ersparen. 
Wir beginnen unsere Analyse indem wir diese drei Gewebe nach ihren Eigenschaften gliedern und klassifizieren: der Muskel ist weich, am elastischsten und sehr beweglich. Der Muskel ist also am meisten Yang von diesen dreien. Der Knochen ist hart, sehr unelastisch, am wenigsten biegsam und unbeweglich. Also ist der Knochen am meisten Yin. Das Bindegewebe liegt zwischen diesen beiden Extremen.

Interessant dabei ist, dass diese Klassifizierung dieselbe bleibt, wenn wir beginnen die Gewebe nicht mehr nach den Eigenschaften, sondern diesmal nach ihrer Lage beurteilen. Am weitesten außen und exponiert von diesen Geweben liegt der Muskel. Die Muskel sind Yang. Am weitesten Innen liegt der Knochen, ist am wenigsten zugänglich. Knochen sind Yin. Das Bindegewebe liegt zwischen diesen beiden.
Warum halten wir uns aber eigentlich  mit dieser Analyse auf? Weil wir mit Yang Gewebe auf  eine Yang Art und Weise üben sollten, und wir Yin Gewebe auf  eine andere Weise stimulieren, auf eine Yin Weise. Die Merkmale von Yang Übungen sind Rhythmus und Wiederholung. Die Merkmale von Yin Übungen sind langes Halten und Unbewegtheit, Stillstand  in der Haltung. Wir sind sehr vertraut mit Yang Übungen wie  Laufen, Schwimmen, Krafttraining. All diese Aktivitäten sind rhythmisch. Wir wechseln zwischen Kontraktion und Entspannung unserer Muskeln um zu laufen, zu schwimmen oder Gewichte zu heben. Es wäre unproduktiv einen Muskel angespannt zu halten bis dieser einen Krampf bekommt. Genauso unproduktiv wäre es, den Muskel einfach nur entspannt zu halten. Gesunde Muskeln brauchen diese Abwechslung zwischen Anspannung und Entspannung, die ein Yang Üben bietet. Der Rhythmus ist dafür sehr wichtig. Man könnte sogar sagen der Rhythmus ist das was ein Üben, ein Training von einfacher körperlicher Arbeit unterscheidet.
Körperliche Arbeit ist selten in einem Rhythmus oder mit so ausgewogenen Wiederholungen, dass sie uns ein gutes Gefühl gibt. Gwöhnlich ist körperliche Arbeit eine völlig willkürliche Mischung aus zu viel von einer Bewegung, nicht genug von anderen Bewegungen. Die führt eher dazu, dass wir uns  am Ende dieser Arbeit verspannt und krumm fühlen, und nicht angenehm ausgepowert und  dabei entspannt. In einer Kultur in der lange Tage voller körperlicher Arbeit unvermeidbar waren, hat die Menschheit auf diesen Anspruch mit ‚Arbeitsliedern‘ reagiert, Soldaten  haben eine endlose Vielfalt an  ‚Marschliedern‘ erfunden.  Das Ziel dieser Lieder ist einen Rhythmus zu erzeugen zu dem die Arbeit wieder erträglich wurde.  Arbeit ist immer noch Arbeit, aber der Rhythmus des Bewegens, Singens und Atmens macht diese annehmbarer und weniger destruktiv.
Eine Yang Übung ist einfach zu definieren und einfach zu erkennen. Es ist was wir bereits als Üben kennen. Im Gegensatz dazu  scheint sich  Yin Üben per se schon zu widersprechen. Wie kann etwas das sanft und statisch ist ein „Üben“ genannt werden? Ein Ziel von diesen Texten ist, unsere Auffassung von Üben etwas auszuweiten und darin mehr einzubeziehen. Yang Übungen sind nicht die einzige Form des Übens.
Die Merkmale von Yin Übungen sind Unbewegtheit und Stillstand  über einen längeren Zeitraum hinweg. Ein Yin Training hat einen Rhythmus, jedoch ist dieser ein viel, viel langsamerer Rhythmus als der einer Yang Aktivität wie zB. Laufen.
 Eine allgemeine Fehlinterpretation von Yin Unbewegtheit ist „passiv“ oder „inaktiv“. Aber diese Fehlauffassung kommt aus unserer kulturbedingten Neigung zu muskulärer, Yang Aktivität. Wenn im Yin Training nichts passieren würde, wäre es  in der Tat ein Widerspruch in der Bezeichnung. Jedoch werden hier Gewebe auf die geeignete Yin Weise beansprucht und trainiert, speziell das Bindegewebe. 
Das gängigste Beispiel für Yin Training ist Zug, ein Strecken. Wenn jemand einen gebrochenen Fuss hat wäre es nicht ratsam, rhythmisch an der verwundeten Stelle zu ziehen. Aber ein sanfter, kontinuierlicher Zug könnte absolut notwendig für eine gesunde Genesung sein.
 Ein noch bekannteres und weniger dramatisches Beispiel der Yin Prinzipien von langem Stillstand mit Zug ist die Kieferorthopädie, die  Zahnspange an unseren Zähnen. Zähne sind Knochen die wiederum in mehr Knochen verankert sind, und sogar diese reagieren auf  das Üben von Yin Yoga Training, langes Dehnen über die Spangen. Knochen sind die ultimativen Yin Gewebe des Körpers. Wenn wir mit unseren Zähnen ein Yang Training machen würden, hätte dies zerstörende Folgen.
Stell dir einen engagierten Bodybuilder vor, der macht was er im Fitness-studio gelernt hat und dies an seinem Mund anwendet. Wenn diese Person beschließt, ihre verdrehten Zähne mit rhythmischen Vor- und Zurückbewegungen gerade zu drehen dauert es nicht lange, bevor ihr die Zähne ausfallen würden. Yang Gewebe sollten auf eine Yang Art trainiert werden, und Yin Gewebe sollten auf eine Yin Art trainiert werden.
Wir werden diesen Artikel mit einer Erinnerung an die taoistischen Konzepte von Yin und Yang schließen. Wenn wir Dinge analysieren, vergleichen wir diese mit etwas anderem.

Es gibt kein absolutes Yin. Es gibt kein absolutes Yang. Wenn wir uns das Tai Ji Symbol der spiralenen Halbkreise mit Weiß und Schwarz vorstellen, müssen wir uns daran erinnern dass im der weissen Spirale ein schwarzer Tupfer  sitzt, in der schwarzen Spirale ein weißer Tupfer. Wenn wir durch unsere Sprache darstellen, dass „Yang rhythmisch ist und Yin ist dies nicht.“, müssen wir bedenken,  dass dies keine absolute Wahrheit ist. Yin hat einen Rhythmus aber dieser  ist viel langsamer als der von Yang. Genauso wenig ist es absolut richtig zu sagen „Yang ist aktiv und Yin ist dies nicht“. Die Aktivität die es im Yin gibt ist nur von einer anderen Art. Es kann etwas zäh sein, wenn wir versuchen in unserer Sprache akribisch genau zu werden. Einer der großen Vorteil der Yin/ Yang Terminologie ist dass wir uns knapp und präzise ausdrücken  können, immer mit dem Verständnis dass dies nicht das allerletzte Wort sein muss. Wie in der Dichtung kann je nach  Zielsetzung später eine tiefere Analyse nötig werden.